Des Kaisers neue Kleider

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Wenn es in dieser Corona-Krise so etwas wie „Gewinner*innen“ gibt, dann gehöre ich wahrscheinlich dazu. Man mag es vielleicht nicht glauben, aber privat bin ich eher ungesellig. Ich habe den Tag über, in Beruf und Ehrenamt mit so vielen Menschen zu tun. Zuhause bin ich darum ganz gerne mit mir allein. Soweit das in einer so großen Familie möglich ist. Der Garten und die viele Landschaft um mich herum, das Leben im vergleichsweise spärlich mit Kultur ausgestatteten ländlichen Raum genüg mir und der Lockdown geht mir zwar auf die Nerven, weil irgendwie immer alle zuhause sind und ich beruflich kaum noch weiter wegfahre, aber im Prinzip stört es mich nicht, wenig Gesellschaft zu haben. Ich habe zu tun und der Garten ist genau die richtige Abwechslung, denn dort gibt es keinen Lockdown, da ist alles, wie immer- ständig im Wandel.

Andererseits habe ich täglich damit zu tun, dass es den Menschen um mich herum nicht so gut damit geht. Der Handel quält sich, die Schule ist eine Katastrophe und wohin man auch geht, man muss sich Essen und Trinken mitnehmen, denn die Cafés und Gaststätten dürfen nicht öffnen und ringen um das blanke Überleben. Corona ist allgegenwärtig und besetzt viel Zeit, ohne, dass wir etwas daran ändern. Nur abwarten, AHA und der Versuch, vorsichtig in eine andere Zukunft zu schauen.

Der Weltfrauentag kriecht näher und wird ganz sicher im Schatten der Corona-Thematik stehen, wir haben Wahlen und eigentlich noch keine rechte Idee, wie wir unsere Themen platzieren und vor allem diskutieren können, mehr Frauen für die Parlamente zu finden scheint ebenfalls ein Projekt zu sein, dass nicht so erfolgreich ist, wie es sein müsste.

Eine Freundin hat mir kürzlich „Das neue Land“ geschickt. Das soll ich lesen und dazu kleine Haftnotizen ins Buch kleben, an den Stellen, die mir irgendwie auffallen oder die ich kommentieren möchte. Das Buch ist nicht sehr dick, aber es liegt immer noch halb gelesen auf meinem Nachttisch. Ich komme nicht rein. Ein Buch aus der bejubelten Perspektive eine Großstadtmutter mit kleinen Kindern. Das ist nicht meine Welt und auch die darin beschrieben Prozesse und Vorschläge, Anregungen und Zusammenfassungen sprechen mich nicht an. Was soll ich dazu sagen? Ist mir egal? Und ich merke, wie sehr die eigene Lebensrealität damit zu tun hat, wie ich mir ein „neues Land“ wünsche. Oder besser- ich wünsche mir eigentlich kein neues Land, denn ich habe es satt, ständig etwas Neues zu machen. Was ist mit dem, was wir haben?

Beispiel?

Die Innenstädte sind in aller Munde. Erst heute Abend musste ich aus Versehen beim Zusammenlegen der Wäsche einen Bericht über die Ideen der Northeimer zu ihrer Innenstadt schauen. Großartig. Da kamen über die Lippen der Probanden alle diese Begriffe, die man jetzt so sagt, wenn man seine Innenstädte retten will. Innenstädte, die schon vor Corona weniger Charme als Leerstand hatten und unter der Invasion von 1-Euroläden und Telefonshops ächzten. Dort sollen jetzt Menschen in den leeren Läden wohnen und Co-Worken…Co-working muss da jetzt auch her, Fußgängerzonen dafür weg und Mikroquartiere sollen entstehen… Ankermieter (innen?), Leuchtturmprojekte, Chill-out-Areas mit hoher Aufenthaltsqualität, Plätze für Start-ups und Sitzbänke mit USB-Ladesteckern.

Zwei Dinge stören mich daran: Zum einen müssen wir dazu passend auch die Gesellschaft verändern, damit die Gesellschaft, die in diesen Innenstädten all das tun und nutzen soll, sich auch rechtzeitig dort einfindet. Oder müsste es nicht umgekehrt sein? Müssten wir vielleicht die Innenstädte an die Bedarfe und Bedürfnisse der Gesellschaft anpassen? Sind Chill-out-Areas, Co-working-Spaces, USB-Ladestecker und Start-ups das, was die Gesellschaft sich wünscht?

Und zum anderen- warum um alles in der Welt helfen wir nicht der Innenstadt, die wir haben und vor allem denen, die dort mit Cafés, Restaurants und Geschäften das betreiben, was wir eigentlich in unserem Alltag schätzen und behalten wollen? Von dem wir wissen, wie sehr es uns fehlt, seit wir vor verschlossenen Türen stehen.

Statt über Tinnef zu diskutieren und immer neue Begriffe zu konstruieren, immer weltfremdere Konzepte zu produzieren, nur um davon abzulenken, dass wir in Wahrheit den Kontakt bereits verloren haben, sollten wir zusammenhalten, zugeben, dass der Kaiser nichts anhat und endlich anfangen, uns den ganz vielen kleinen und großen Problemen zu stellen, die die Menschen in und mit dieser Innenstadt haben.

Hände aus den Hosentaschen, Ärmel hoch. Wir haben viel zu tun. Reden allein wird uns nicht weiterbringen.